Friday, March 20, 2015

Dieter Nelles, review for H-Soz-Kult - (German-language) reviews NO. 1 of German translation ("Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik des Anarchismus und Syndikalismus")

Dieter Nelles, review for H-Soz-Kult 
(HUMANITIES - SOZIAL- UND KULTURGESCHICHTE / H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU
(http://www.hsozkult.de)
 
Date: Thu, 19 Mar 2015 21:05:00 +0100
From: "HSK (Michael Wildt)" <...>

From:    Dieter Nelles <...>
Date:    20.03.2015
Subject: Rez. NS: M. Schmidt u. a.: Schwarze Flamme
------------------------------------------------------------------------

Schmidt, Michael; van der Walt, Lucien: Schwarze Flamme. Revolutionäre
Klassenpolitik des Anarchismus und Syndikalismus [Aus dem Englischen
übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Andreas Förster und Holger
Marcks]. Hamburg: Edition Nautilus / Verlag Lutz Schulenburg 2013. ISBN
978-3-89401-783-5; Broschur; 557 S.; EUR 39,90.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Dieter Nelles, Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: <...>

In einem Artikel über Pierre-Joseph Proudhon schrieb der Journalist
Jakob Schulz kürzlich in der Süddeutschen Zeitung: "Proudhons
Überzeugungen haben letztlich keinen bleibenden Einfluss auf den
Sozialismus. Anfang des 20. Jahrhunderts finden anarchistische Ideen
fast nur noch in intellektuellen Kreisen statt."[1] Es sind solche
Fehlurteile, die den Anarchismus fälschlicherweise als gesellschaftliche
Randerscheinung abqualifizieren oder ihn "mit Chaos, Desorganisation und
Zerstörung" (S. 14) gleichsetzen, gegen die sich der Soziologe Lucien
van der Walt und der Journalist Michael Schmidt richten. Das 2009 auf
Englisch erschienene Werk wird sowohl in politischen als auch in
wissenschaftlichen Kreisen kontrovers diskutiert, wobei die Debatte
insgesamt, schreiben die Übersetzer im Nachwort, "vor allem kraft
politischer Überzeugungen geführt" werde "und kaum als wissenschaftliche
Auseinandersetzung" (S. 431).

Das dem so ist, hat aber auch damit zu tun, dass es sich bei Schwarze
Flamme, so die Autoren, "nicht bloß um die archäologische Studie einer
altertümlichen, heute begrabenen Bewegung" handele, sondern um eine
Bewegung, die "inmitten der globalisierungskritischen und
antikapitalistischen Bewegung" stehe (S. 8). Die Autoren verfolgen zwei
zentrale Ziele: Sie liefern eine neue Interpretation der anarchistischen
Tradition und versuchen eine globale Geschichte der anarchistischen
Bewegung zu schreiben, die nicht auf Westeuropa und die USA beschränkt
ist. Sie wenden sich damit ausdrücklich gegen die These des "spanischen
Exzeptionalismus" (S. 349-343), nach der der Anarchismus nur in Spanien
einen Masseneinfluss hatte (S. 204), und erinnern mit dem Historiker
Eric Hobsbawm daran, dass die marxistische Linke in den Jahren 1905-1914
am Rande der revolutionären Bewegung stand, deren Mehrheit sich
anarcho-syndikalistisch orientierte. (S. 204)

Im ersten Teil entwickeln die Autoren ihre Definition der broad
anarchist tradition (die Übersetzer verwenden den Begriff des englischen
Originals), die ihre Wurzeln im anarchistischen Flügel der Ersten
Internationale um Bakunin habe und zur sozialistischen Bewegung gehöre.
Dieser "Klassenkampfanarchismus" ist für sie nicht "etwa eine Variante
des Anarchismus", sondern der "einzige Anarchismus" (S. 34). Denker, die
gemeinhin als Anarchisten bezeichnet werden wie William Godwin, Max
Stirner oder Leo Tolstoi betrachten sie nicht als Bestandteil dieser
Tradition, sondern als libertäre Denker, deren Ideen sie vom Anarchismus
unterscheiden. Bemerkenswert ist, dass sie neben Proudhon auch Marx als
Ideengeber des Anarchismus bezeichnen. Sie diskutieren ausführlich die
Gemeinsamkeiten aber auch die tiefgreifenden Unterschiede zwischen
Anarchismus und Marxismus (S. 112-152). Die Anarchismus-Definition der
Autoren hat erwartungsgemäß die meiste Kritik hervorgerufen. Es ist
sinnvoll, wie die Autoren es tun, zwischen Anarchismus als sozialer
Bewegung und libertären philosophischen Theorien zu unterscheiden. Aber
ihre Definition der broad anarchist tradition ist zu rigide, weil
beispielsweise ein Theoretiker und Aktivist wie Gustav Landauer, der das
Konzept des Klassenkampfs dezidiert ablehnte, aus der anarchistischen
Tradition herausfallen würde.

Im zweiten Teil der Arbeit diskutieren die Autoren strategische und
taktische Debatten innerhalb der broad anarchist tradition. Im Zentum
steht dabei das Verhältnis zwischen Anarchismus und Syndikalismus und
dessen historische Ausprägungen. Die Autoren machen kein Geheimnis aus
ihrer Sympathie für den Syndikalismus, der für sie "die wichtigste
Strömung des Anarchismus" (S. 16) war. Sie benutzen den Begriff des
Syndikalismus in einem weiten Sinne. Zwar unterscheiden sie zwischen
revolutionären Syndikalismus und Anarchosyndikalismus, heben aber deren
Gemeinsamkeiten hervor: "Dass sie die Arbeiterselbstverwaltung der
Produktionsmittel, eine antistaatliche Position sowie die Feindschaft
gegenüber politischen Parteien und dem Parlament betonen und sich zu
einer sozialen Revolution bekennen, in der Gewerkschaften die
maßgebliche Rolle spielen." (S. 185) Sie rekurrieren auf den
anarchistischen Charakter des Syndikalismus, ungeachtet der Frage, "ob
sich die Verfechter seiner anarchistischen Abstammung bewusst waren oder
nicht" (S. 221). Diese Vernachlässigung der ideologischen Ebene wird der
Entwicklung des revolutionären Syndikalismus zum Anarchosyndikalismus in
den 1920er-Jahren nicht gerecht. Denn unter dem Einfluss der Russischen
Revolution schloss sich ein Teil der syndikalistischen Organisationen
der kommunistischen Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) und nicht
der anarchosyndikalistischen Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA),
die Ende 1922 in Berlin gegründet wurde, an.[2] Der deutsche
IAA-Sekretär Helmut Rüdiger charakterisiert den revolutionären
Syndikalismus deshalb zu Recht als "Zwitter aus Marxismus und
Anarchismus".[3]

Im dritten Teil diskutieren die Autoren einige zentrale Thesen zur
Geschichte der anarchistischen Tradition, ihren Klassencharakter und
Masseneinfluss sowie den anarchistischen Internationalismus und den
Umgang mit Rassismus, Imperialismus und Geschlechterfragen. Sie zeigen,
dass aus einer globalen Perspektive der Anarchismus keine
Randerscheinung in der Arbeiter- und Bauernbewegung der letzten 150
Jahre war. Ihre Anhänger fand die broad anarchist tradition vor allem
bei städtischen Arbeitern und unter Landarbeitern und sie hatte auch
eine große Anziehungskraft auf die Bauernschaft. Die Autoren legen zwar
überzeugend den Aufstieg der anarchistischen Massenbewegung dar. Aber
wir erfahren nur wenig, warum die "glorreiche Ära" Mitte der
1920er-Jahre zu Ende ging und der Anarchismus und Syndikalismus
gegenüber rivalisierenden Bewegungen wie dem Kommunismus, dem
Nationalismus und dem Faschismus ins Hintertreffen gerieten. Der
Niedergang der syndikalistischen Bewegung hatte auch damit zu tun, dass
sie keine Antwort fand auf die Weltwirtschaftskrise, von der außer in
Spanien politisch vor allem die Kommunisten profitierten. Dass die
Anarchisten in Spanien in die Volksfrontregierung eintraten, hatte
weniger, wie die Autoren schreiben, mit dem "Mangel eines klaren Plans"
(S. 256) zu tun, sondern war vielmehr auch der fehlenden internationalen
Solidarität für die spanischen Anarchisten geschuldet. Die IAA war in
den 1930er-Jahren viel zu schwach, um eine wirksame Solidarität für die
spanischen Genossen zu organisieren. Es ist ein Defizit des Buches, das
die Geschichte IAA nur ganz beiläufig erwähnt wird, denn das steht im
starken Kontrast zu ihrer starken Betonung des internationalen
Charakters der broad anarchist tradition.

An dieser und auch an anderen Stellen argumentieren die Autoren oft
programmatisch und ideologisch statt analytisch. Aber trotz dieser
Kritikpunkte stellt das Werk eine beeindruckende Leistung dar und ist
für alle unverzichtbar, die sich mit der globalen Geschichte des
Anarchismus und Syndikalismus beschäftigen.[4]


Anmerkungen:
[1] Jakob Schulz, Der Staatsfeind, in: Süddeutsche Zeitung,
10./11.01.2015, S. 29.
[2] Zur IAA vgl. Vadim Damier, Anarcho-Syndicalism in the 20th century,
Edmonton 2009. 
[3] Zitiert nach Dieter Nelles / Hartmut Rübner, Avantgarde einer
egalitären Bewegung: Anarchosyndikalisten in Deutschland in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Moving the Social 51 (2014), S.
179-212, hier S. 212.
[4] Vgl. auch Steven J. Hirsch / Lucien van der Walt (Hrsg.), Anarchism
and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940: The
praxis of national liberation, internationalism, and social revolution,
Leiden 2010.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Wildt <...>

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2015-1-183>

------------------------------------------------------------------------
Copyright (c) 2015 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights
reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial,
educational purposes, if permission is granted by the author and usage
right holders. For permission please contact H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU.


Falls Sie Fragen oder Anmerkungen zu Rezensionen haben, dann schreiben
Sie bitte an die Redaktion von H-Soz-Kult:
<hsk.redaktion@geschichte.hu-berlin.de>

_________________________________________________
    HUMANITIES - SOZIAL- UND KULTURGESCHICHTE
           H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU
 Redaktion:
 E-Mail: hsk.redaktion@geschichte.hu-berlin.de
 WWW:    http://www.hsozkult.de
_________________________________________________

No comments:

Post a Comment